Retten Daten von gestern das Klima von morgen?

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Anlageentscheidungen auf Basis historischer Daten

Die Herausforderungen auf dem Weg zu den europäischen Umwelt- und Klimazielen sind vielfältig. Unvollständige EU-Taxonomie, fehlende Bewertungskriterien und nicht zuletzt mangelnde Unternehmensdaten machen Asset Managern das Leben schwer. In der Praxis treffen Finanzberater und Anleger Investitionsentscheidungen auf Basis historischer Daten.

Schon in der Offenlegungs-Verordnung hält die EU-Kommission fest, dass „dringend Maßnahmen ergriffen werden“ müssen, „um Kapital zu mobilisieren, und zwar nicht nur von der Politik, sondern auch durch den Finanzdienstleistungssektor.“ Diese Vorgabe legt die Basis für nachhaltige Finanzprodukte, die – wenn sie den EU-Kriterien entsprechen – das Attribut Artikel 8 oder Artikel 9 tragen dürfen (Lesen Sie auch Klimasünder „grüne“ Regulatorik).

Derzeit kennt die EU-Taxonomie lediglich sechs Umweltziele, obwohl nachhaltige Investitionen per Definition eigentlich alle ESG-Ziele (Wofür steht „ESG“?) verfolgen sollen. Bewertungskriterien, anhand derer Asset Manager erkennen, ob Investitionen einen Beitrag zum Erreichen eines Umweltzieles leisten, gibt es seit 1. Januar 2022 nur für die Umweltziele Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel. Auf den Rest lässt uns die EU, entgegen ihrem eigenen Zeitplan, weiterhin warten.


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Die wenigen vorhandenen Bewertungskriterien, nachzulesen in der Delegierten Verordnung (EU) 2021/2139 (Technische Bewertungskriterien für Klimaschutz und Klimawandel), legen eine Vielzahl an Schwellenwerten für jene Wirtschaftstätigkeiten fest, die gemeinsam für etwa 80 Prozent der europäischen Schadstoff-Emissionen verantwortlich sind. Zentrale Messgröße ist die Emission von CO2-Äquivalenten, also der Summe aller klimaschädlichen Treibhausgase (kurz CO2-Äq). Das Problem dabei: Viele Grenzwerte in der EU-Verordnung haben nur mehr historische Aussagekraft.


Zahlreiche Grenzwerte sind mit einer Fußnote versehen, die den Hinweis beinhaltet: „Entspricht dem für die Anlagen in den Jahren 2016 und 2017 geltenden Medianwert“. Daraus lässt sich schließen, dass bis zu sieben Jahre alte Medianwerte als Maßstab für das Reduzieren zukünftiger Emissionen dienen. Unternehmen, die diese historischen Messwerte in den Jahren danach schon erreicht haben, gelten bereits heute als „nachhaltig“ und haben eigentlich gar keinen Ansporn mehr, geschweige denn eine gesetzliche Verpflichtung, noch mehr Emissionen einzusparen – obwohl wir wissen, dass jede weitere Tonne eingespartes CO2 dem Klimaschutz dient.


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Zu den veralteten Grenzwerten gesellen sich naturgemäß nicht ganz taufrische Unternehmensdaten, die Asset Manager ihren Investitionsentscheidungen zu Grunde legen (müssen). Für heute, also Frühjahr 2023, zu treffende Anlageentscheidungen stehen oft noch keine Nachhaltigkeitsberichte des Jahres 2022 zur Verfügung. Der Blick in die Berichte des Jahres 2021 offenbart jedoch Zahlen, die sich mittlerweile ganz anders darstellen können.


Anhand dieser betagten Unternehmensdaten und historischen Grenzwerte entscheiden Asset Manager, ob eine Investition im Sinne der EU als nachhaltig eingestuft werden kann, oder nicht. Über die Aktien und Anleihen, die auf Basis dieser Entscheidungsgrundlage heute zum Beispiel in Fondsvermögen landen, berichten Verwaltungsgesellschaften in den Rechenschaftsberichten – die mit einem weiteren Jahr Verzögerung veröffentlicht werden. Auf dieser Basis treffen Finanzberater und ihre Kunden dann Anlageentscheidungen. Zahlenmaterial, das bereits mehrere Jahre am Buckel hat, dient folglich als Maßstab für die „nachhaltige“ Zukunft.

Ein Beispiel: Bei der Herstellung von Grauzementklinker, einem Bestandteil von Zement, dürfen laut EU-Bewertungskriterien je Tonne bis zu 816 kg CO2-Äq anfallen, um erhebliche Beeinträchtigungen des Klimaschutzes zu vermeiden. Die zugehörige Fußnote 128 verweist auf Medianwerte aus den Jahren 2016 und 2017. Ein namhafter, großer Zementhersteller, mit dessen Nachhaltigkeitsmanager ich sprechen durfte, emittiert in seinem Werk nahe Wien lediglich 450 kg CO2-Äq je Tonne, konzernweit sollen es circa 550 kg CO2-Äq je Tonne sein.


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Dieser Zementhersteller schafft es also bereits heute – wirtschaftlich sinnvoll und technisch machbar – den EU-Grenzwert deutlich zu unterschreiten. Natürlich sind 550 kg CO2-Äq je Tonne immer noch sehr viel und man wird sich bemühen, die Emissionen weiter zu senken, aber für die EU ist diese Zementherstellung schon jetzt, auch ohne weitere Anstrengungen, „supergrün“.


Es liegt in der Natur der Sache, dass jene Daten, die Finanzberater zur Auswahl von geeigneten Finanzprodukten und Anleger für ihre Investitionsentscheidungen heranziehen, nicht tagesaktuell sind, sondern aus der Historie stammen. In vorvertraglichen Informationen wird auf diesen Umstand daher oftmals hingewiesen, weil sich Anleger darüber bewusst sein müssen, dass sie ihr Geld auf Basis veralteter Nachhaltigkeitsdaten investieren.


Dieser Beitrag ist erstmals im Nachrichtenmagazin risControl, Heft Nr. 04-2023 erschienen.


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