Sustainable Finance: Wird „Artikel 9“ zum Rohrkrepierer?

Immer mehr Produkthersteller wenden sich von den EU-Kriterien ab.

Der europäische Grüne Deal verfolgt hochgesteckte Ziele. Vielleicht zu hoch gesteckte. Die Probleme beim Umsetzen werden zunehmend sichtbar. Kritische Stimmen mehren sich. Die Zahl der Artikel 9-Finanzprodukte, die nachhaltige Investitionen anstreben, nimmt eher ab als zu.

Rohrkrepierer bezeichnet etwas, das nicht den erhofften Erfolg bringt. Das trifft auf das Ziel, Anlagegelder verstärkt in nachhaltige Investitionen umzulenken, zu. Die seit 2. August 2022 verpflichtende Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen überfordert viele Kunden, fachlich wie vom Umfang her. Alltagssorgen, wie steigende Lebenshaltungs- und Energiekosten, sowie Turbolenzen an den Finanzmärkten schmälern das Interesse an Nachhaltigkeit bei der Geldanlage zusätzlich. Wenn überhaupt Geld zum Veranlagen vorhanden ist, stehen wieder Rendite und Risiko im Fokus.

Anleger stellen sich zudem die Frage, ob „hellgrüne“ und „dunkelgrüne“ Finanzprodukte tatsächlich halten was sie versprechen. Die Zahl jener, die Nachhaltigkeit bei der Geldanlage als reinen Modetrend betrachten, nimmt zu. Befeuert wird die Skepsis durch Berichte über Klagen von Verbraucherschützern gegen große Fondshäuser und Geldbußen wegen Verdacht auf Greenwashing.

Nur in Nuancen „dunkelgrün“

Zahlreiche Investmentfonds, die nachhaltige Investitionen anstreben (sich also mit dem Attribut „Artikel 9“ bzw. „dunkelgrün“ schmücken), enthalten nur sehr geringe Mindestanteile an nachhaltigen Investitionen – manche sogar nur 1 (!) Prozent.

Den Produktherstellern ist jedoch kein Vorwurf zu machen. Sie sind, ebenso wie die Finanzberater, Leidtragende der unvollständigen und lückenhaften Regularien. Geringe Mindestanteile an EU-konformen Investitionen und Herabstufungen von Finanzprodukten von Artikel 9 auf Artikel 8 („hellgrün“) sind direkte Folgen der Versäumnisse des europäischen Gesetzgebers. Immer mehr Fondsanbieter, beispielsweise DEKA, Amundi und DWS, verzichten angesichts der regulatorischen Unsicherheiten auf die Kennzeichnung als „dunkelgrün“.

Kritik von höchster Stelle

Niemand geringerer als Verena Ross, Vorsitzende der Europäischen Wertpapieraufsicht ESMA, bezeichnet das bestehende Regelwerk als „echte Herausforderung“ und stellt fest, dass es für die Marktteilnehmer „extrem schwierig“ ist, sich darin zurechtzufinden. Ähnlich äußert sich die Europäische Versicherungsaufsicht EIOPA: „Wichtige Regulierungsinitiativen zur Ermittlung und ordnungsgemäßen Offenlegung von Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten, auch im Rahmen der EU-Taxonomie, sind noch nicht abgeschlossen.“, gibt die ranghohe Aufsichtsbehörde unverblümt zu.

Mark Branson, Präsident der deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin, kommt in einem Kurzkommentar zum Schluss, dass „ein einfaches Labelling ‚grün‘ oder ‚nicht-grün‘ kaum den heterogenen und unterschiedlich differenzierten Präferenzen von Anlegern gerecht werden kann.“

Unvollständiges Regelwerk

Was die Vertreter der Aufsichtsbehörden ansprechen, stellt die Finanzindustrie vor enorme Herausforderungen. Die EU-Offenlegungsverordnung definiert nachhaltige Investitionen bekanntlich auf Basis der ESG-Kriterien. Die EU-Taxonomie kennt bis dato aber nur Umweltziele. Soziale Ziele und Aspekte der guten Unternehmensführung lassen auf sich warten, ebenso wie die meisten Bewertungskriterien zu den Umweltzielen.

Eine vollständige Taxonomie würde das Problem für Produkthersteller jedoch nicht lösen, denn es fehlen die nachhaltigkeitsbezogenen Daten der Unternehmen. Zwar haben sich die EU-Institutionen auf neue Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive CSRD) politisch geeinigt, bis das Regelwerk angewendet wird, dauert es mindestens bis 2025.

So lange können Asset Manager natürlich nicht auf Unternehmensdaten, die sie für die Titelselektion benötigen, warten. Also kaufen sie ESG-Daten von namhaften Rating-Anbietern zu. Im Vergleich der zahlreichen Anbieter von ESG-Ratings zeigt sich, dass die Ratings sehr breit streuen. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology kommt zum Ergebnis, dass die Korrelation von ESG-Ratings bei sechs verschiedenen Anbietern im Durchschnitt bei gerade einmal 0,54 (!) liegt. Wie treffsicher sind solche Daten?

Berichtsirrsinn und Risiken

Ein Sahnehäubchen oben drauf kredenzen die mit fast eineinhalb Jahren Verspätung veröffentlichten technischen Regulierungsstandards zur Offenlegungs-Verordnung. Sie bedingen ab 1. Januar 2023 in einem bemerkenswerten Detailgrad nachhaltigkeitsbezogene Informationen für Finanzprodukte – auch Information zu Daten, die (Stichwort CSRD) noch gar nicht verfügbar sind.

Zum enormen Aufwand gesellen sich aufsichts- und zivilrechtliche Risiken, die dazu führen, dass auch die Compliance- und Rechts-Abteilungen der Produkthersteller auf der Bremse stehen. Was uns abschließend zur Eingangsfrage zurückführt: Werden „Artikel 9“-Finanzprodukte zum Rohrkrepierer?

P.S.: Und was bleibt bei all dieser Regulierungsflut vollends auf der Strecke? Die echte Wirksamkeit für Klima und Umwelt.


Dieser Beitrag ist (mit Redaktionsschluss Ende November) erstmals in der Dezember-Ausgabe von Geld & Rat, dem Magazin für den österreichischen Finanzdienstleister, erschienen.


Update vom 17.12.2022: ESMA nimmt nach Artikel 9 auch Artikel 8-Fonds ins Visier

Die europäischen Markt- und Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA arbeitet an (noch) strengeren Regeln für nachhaltige Finanzprodukte. Die Behörde schlägt vor, dass Fonds, die sich im Namen mit Begriffen wie „ESG“ schmücken, mindestens 80 Prozent in jenen Anlagesegmenten halten müssen, die der eigenen „grünen“ Strategiebeschreibung entsprechen. Verwenden Fonds im Namen Begriffe wie „nachhaltig“, soll die Hälfte dieses 80-Prozent-Anteils in nachhaltige Vermögenswerte fließen, die den (lückenhaften) EU-Kriterien entsprechenn.

Laut Verena Ross, Präsidentin des ESMA, sollen diese Maßnahmen sicherstellen, dass Anleger vor ungerechtfertigten oder übertriebenen Behauptungen zur Nachhaltigkeit geschützt werden. Diese Ziel wird die ESMA vermutlich erreichen. Aber anders, als vorgesehen. Denn noch strengere (und im Detail unerfüllbare) Vorschriften werden dazu führen, dass viele Fonds und ETFs auch die Kennzeichnung als „Artikel 8“ ablegen werden, sich also auf Artikel 6 herabstufen und auf jeglichen „grünen“ Investitionsanteil gemäß den EU-Kriterien verzichten.

Damit hätte die ESMA in ihrem Wahn zur Überregulierung die ursprünglich gut gemeinte Idee des nachhaltigen Investierens endgültig zu Grabe getragen.


Banner_Andreas_Dolezal_Anmeldung_Newsletter_nachhaltig